16. Werkzeuge aus dem Oberen Miozän von Aurillac
      in Frankreich

16.9 Diskussionen in den 1950er bis 1970er Jahren

16.9.1 Cantal-Funde ähneln „Heidelberger Kultur“

Im Herbst 1956 und 1957 studierte Rust im Geologischen Institut der Universität Oxford die 7.000 Objekte umfassende Sammlung aus dem Obermiozän von Aurillac, die Ernest Westlake zusammengetragen hatte (r usT 1957, S. 37). Die Objekte sind mit Fundortbezeichnungen versehen und tragen häufig die Aufschrift in situ (Rust & Steffens 1962, S. 67). 90% der Feuersteine schloss Rust als Geofakte aus, aber die übrigen Funde waren „überwältigend“. In der Eolithensammlung im Museum in Aurillac liegt der Anteil an Artefakten unter 5%.

Die echten Werkzeugfunde in Oxford von den Fundstätten Puy Courny, Puy de Boudieu, Belbex, Queille Belbex und drei weniger bedeutsamen Vorkommen gleichen nach Rust in ihrer Zurichtung und typologischen Einheitlichkeit bestimmten Artefakten der „Heidelberger Kultur“ (Rust 1957, S. 37). Man kann an ihnen artifizielle Feinheiten erkennen, weil sie aus dem sehr gut bearbeitbaren Feuerstein hergestellt sind. Hätten die Artefakthersteller im Obermiozän des Cantal jedoch wie die Produzenten der pleistozänen „Heidelberger Kultur“ in Südwestdeutschland Rohmaterial aus Sandstein, Granit oder Basalt benutzen müssen, dann wären auch die Cantal-Geräte gröber gefertigt (ebd., S. 42). Die Cantal-Eolithen sind z. T. derart hervorragend zugeschlagen, dass Rust (ebd., S. 41) großen Zweifel an ihrem hohen Alter hegte. Er ordnete die Cantal-Funde, die aus Flusssanden des Pontiums (Obermiozän) geborgen wurden, nach der Einstufung dieser geologischen Stufe durch damalige deutsche Geologen dem Unterpliozän zu. Das Pontium (heute Messinium) bildet heute aber allgemein das oberste Miozän (siehe Abb. 2.4).

1957 konnte Rust Aufschlüsse um Aurillac besichtigen. Bei dem Dorf Belbex hatte man um die Jahrhundertwende Eolithen aus Quarzsanden geborgen, aus dem Liegenden von Basalt. Am Nordhang des Dorfhügels war es Rust möglich, aus der Ackerkrume, die z.T. dem dort anstehenden Kalk aufliegt und mit Quarzgeröllen übersät ist, in wenigen Stunden 65 Flintartefakte aufzusammeln. Am großen Basaltbruch, der am Westhang des Puy Courny direkt bei Aurillac angelegt war, entdeckte Rust im Erosionsschutt unter Basalt hervorragend geschlagene Artefakte, wie sie typisch für die „Heidelberger Kultur“ sind. Die Werkzeuge waren durch Winderosion poliert und zum Teil mehrfach retuschiert. An den verschiedenen Fundplätzen um Aurillac neben Artefakten aus plattigem Flint, die Kerngeräte darstellen, kommen nach Rust auch zahlreiche vorzüglich gearbeitete Abschlagsgeräte aus Feuerstein vor (Rust 1957, S. 41-42). Abb. 16.62-16.66 zeigen Cantal-Werkzeuge, zwei davon aus der Westlake-Sammlung.

Rust erkannte auch eine Beziehung der „Heidelberger Industrie“ zu einigen Crag-Industrien von East Anglia (siehe Kap. 12), ging aber darauf nicht näher ein (ebd., S. 45).

Er erwähnt, dass Prof. Gerhard von Koenigswald mit seinen Studenten im auskeilenden, nicht von Basalt überdeckten Erosionsschutt am Puy Courny einen Probeschurf anlegte. Wie bei Belbex und am Puy de Boudieu kamen dabei kleine Abschlagsartefakte zum Vorschein. Sie würden typologisch nicht auffällig wirken, wenn sie mit Werkzeugfunden des Neandertalers der mittelpaläolithischen Schicht II von La Micoque vermischt wären (ebd., S. 42). Denn ein großer Anteil der Artefakte von La Micoque zeigt eine Bearbeitung wie die Geräte der „Heidelberger Kultur“: Mit einfachem oder Gegenschlag wurden nasenartige Vorsprünge mit seitlich oft übersteilten Buchten herausgearbeitet (Abb. 16.67), ferner würden mit alternierend geführten Längsretuschen Hobel hergestellt (ebd., S. 34). Sechs Jahre später stellt von Koenigswald merkwürdigerweise das Ergebnis der Kampagne anders dar, nämlich ergebnislos bezüglich Artefaktfunden (s.u.).

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