16. Werkzeuge aus dem Oberen Miozän von Aurillac
      in Frankreich

... entschliessen, nach Beschreibungen und Abbildungen allein die Werkzeugnatur derselben anzuerkennen. Hier ist es unerlässlich, für Jemanden, der sich ein eigenes Urtheil gewinnen will, die Objecte selbst in den Händen zu haben, um sie drehen und wenden und in Bezug auf ihre Einzelheiten genau analysieren zu können. Ausserdem ist es nothwendig, die Objecte und ihr Vorkommen an Ort und Stelle kennen zu lernen, damit man auch hinsichtlich ihres geologischen Alters die Gewissheit gewinnen kann, die man verlangt. So beschloss ich, durch eigene Ausgrabungen an Ort und Stelle mich selbst zu überzeugen und hoffte um so mehr in der Lage zu sein, mir ein abschliessendes Urtheil in der Frage für oder wider die Werkzeugnatur der tertiären Feuersteine bilden zu können, als ich seit mehreren Jahren durch experimentelle Studien an Feuersteinen verschiedener Herkunft mit den charakteristischen Spuren menschlicher Einwirkung genauer vertraut war. Ich kann sagen, dass ich in der That gänzlich ohne vorgefasste Meinung nach der einen oder anderen Richtung hin meine Reise antrat. Es hätte mich ebenso interessiert, die Frage im negativen wie im positiven Sinne zu beantworten“ (ebd., S. 5-6).

Vor seiner Fahrt nach Aurillac besuchte Verworn Rutot in Brüssel und begutachtete miozäne Feuersteine von Aurillac, die dieser Pierre Marty und Charles Puech verdankte. „Schon diese Reihe“, so Verworn , „enthielt Stücke, die ich mir nicht leicht anders als durch die Einwirkung des Menschen beeinflusst denken konnte, und das Gleiche war der Fall mit einer grossen Reihe von Feuersteinen derselben Herkunft, die ich bald darauf bei Capitan in Paris zu sehen Gelegenheit fand. … Zwang mich nun zwar die Betrachtung und Prüfung dieser Funde schon dazu, mich mit dem Gedanken einer miocänen Feuersteincultur in der Auvergne vertraut zu machen, so muss ich doch gestehen, dass meine wissenschaftliche Skepsis, und, wenn man will, auch alt hergebrachte Vorurtheile in dieser wichtigen Frage noch stark genug wirkten, um meine positive Entscheidung immer wieder durch allerlei neu ersonnene Bedenken ins Wanken zu bringen. Ich musste die Dinge an Ort und Stelle sehen, ich musste die Fundverhältnisse selbst kennenlernen, ich musste die Stücke eigenhändig aus der Erde nehmen, sonst konnte ich keine Sicherheit finden. So ging ich nach Aurillac“ (ebd., S. 7).

Verworn hatte in der verhältnismäßig kurzen Zeit seines ersten Aufenthaltes in Aurillac – im Ganzen waren es sechs Tage – einen unerwartet großen Erfolg. Wesentlich dazu verholfen hatten Pierre Marty und Charles Puech , beide mit den geologischen Verhältnissen der Umgebung bestens vertraut. Marty hatte bereits am Puy de Boudieu eine Stelle freilegen lassen, so dass Verworn bei seiner Ankunft eine frisch geöffnete miozäne Tuffschicht vorfand, deren Ausbeutung ihm in der Folge das meiste Material lieferte. Puech hatte durch den Nachweis der sehr englokalisierten Fundstellen am Puy Courny, bei Veyrac, Bois la Condamine und bei Belbex sowie durch Bereitstellung erfahrener Arbeiter Verworns Unternehmen wesentlich unterstützt.

„So habe ich denn unter den günstigsten Verhältnissen meine Ausgrabungen in der Umgebung von Aurillac vornehmen können. Das Ergebnis derselben war, dass ich gleich bei der ersten Ausgrabung am Puy de Boudieu das Glück hatte, auf eine Stelle zu stossen, an der ich eine grosse Anzahl von Feuersteinen fand, deren unbestreitbare Manufactnatur mich anfangs geradezu verblüffte. Ich hatte so etwas nicht erwartet. Nur langsam konnte ich mich an den Gedanken gewöhnen, hier Werkzeuge eines tertiären Menschen in der Hand zu haben. Ich machte mir alle erdenklichen Einwände. Bald zweifelte ich am geologischen Alter, bald wieder an der Manufactnatur der Feuersteine, bis ich widerstrebend einsah, dass alle Einwände die Thatsache nicht zu beseitigen vermochten“ (ebd., S.7-8).

Verworn berichtete aus Aurillac seinem Lehrer Ernst Haeckel auf einer heute noch erhaltenen Postkarte über seine obermiozänen Werkzeugfunde (Abb. 16.18). ...

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